Errors and mistakes – A cultural history of fallibility

Errors and mistakes – A cultural history of fallibility

Organisatoren
Mariacarla Gadebusch Bondio (Greifswald); Agostino Paravicini Bagliani (Lausanne); Gefördert durch Thyssen; Fondation du patrimoine historique, culturel et artistique, Lausanne
Ort
Greifswald
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.06.2010 - 26.06.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne K. Kohlrausch, Berlin; Mariacarla Gadebusch Bondio, Greifswald

Vom 23. bis 26. Juni 2010 tagte im Begegnungszentrum „Felix Hausdorff“ in Greifswald ein internationales Symposium zum Thema „Irrtümer und Fehler – eine Kulturgeschichte der Fehlbarkeit“. Medizin und Philosophie bildeten deutliche Schwerpunkte, wobei auch Irrtümer und Fehler in Literatur, Alchemie, Technik und Religion zum Gegenstand der Reflektion gemacht wurden. Dank des vergleichenden Blicks auf diese Disziplinen konnte der epistemologische und ethische Stellenwert von Fehlern und Irrtümern in der Geschichte der Wissenschaften herausgearbeitet werden.

Zu Beginn zeigte THOMAS RICKLIN (München) in einem Vortrag über die Rezeption Epikurs und Lukrez’ im 15. Jahrhundert die schöpferischen Möglichkeiten des Irrens in der Philosophie auf. Der Bezug auf die bereits als Irrtümer verworfenen Lehren Epikurs und die Lyrik Lukrez’ ermöglichte es Philosophen und Dichtern – ausgehend vom Eingeständnis der Irrtümer Epikurs – nicht nur von der voluptas zu schreiben, sondern auch neue narrative Darstellungen des Todes und der Krankheiten zum Tode, besonders der Pest und der Syphilis, zu erschaffen. Ausgehend von dieser Beobachtung plädierte Ricklin für eine Historiographie der Irrtümer, da diese aufgrund ihrer epistemologischen Stellung neue Denk- und Erzählräume eröffnen kann.

Ausgehend vom Tractatus de erroribus philosophorum (1269/1270) befasste sich ALESSANDRO GHISALBERTI (Mailand) mit den Irrtümerlisten des 13. und 14. Jahrhunderts und zeigte, wie in diesen die Grenzen zwischen Philosophie und Theologie unscharf werden. Dank Ockham, Gregorio da Rimini und Buridanus erhielt die Problematik des Irrtums und der Fehlbarkeit in Bezug auf den epistemologischen Status der Logik eine prominente Stellung. Zudem zeigen theologische Auseinandersetzungen etwa um die Frage der Allmacht Gottes, den Ursprung des Kosmos sowie die Unendlichkeit möglicher Welten die fruchtbaren Folgen der Kritik am „irrtümlichen“ aristotelischen Determinismus. Diese Kritik führte dazu, dass ein einheitliches System von Gesetzen, welches das Universum mechanisch steuert, überhaupt erst vorstellbar wurde.

PAOLA BERNARDINI (Siena) erläuterte anhand einer Analyse der Texte Thomas von Aquins und Boetius von Daciens die mittelalterliche Debatte um die Ewigkeit der Welt und den Disput über die zweifache Wahrheit. Die widersprüchlichen christlichen beziehungsweise aristotelischen Lehrsätze zur Schöpfung oder Ewigkeit der Welt mussten zwar einander als error verwerfen. Durch das Konzept der zweifachen Wahrheit aber war es möglich, den argumentativen Wert irriger Lehrsätze über die Ewigkeit der Welt anzuerkennen. Und da die Wahrheit der christlichen Lehre von grundsätzlich anderer Qualität sei, stelle sie keine naturphilosophische positio dar und stehe somit jenseits argumentativer Widerlegbarkeit.

Den Ausgangspunkt der Ausführungen von MICHAELA PEREIRA (Siena) bildete die verbreitete Auffassung der Alchemie als „erstem Irrtum“ der Menschheit. Pereira zeigte, wie sich die Kategorien Wahrheit und Irrtum wenig eignen, um eine Disziplin zu kennzeichnen, die über die kognitive Erfahrung hinaus operiert. Pereira analysierte mittelalterliche Fehlbarkeitsdiskurse, die innerhalb und außerhalb der Alchemie entstanden (Paolo di Taranto, Magister Testamenti, Roger Bacon, Albertus Magnus, Pietro Bono). Sie zeigte, wie der Gegensatz von Wahrheit und Irrtum im Zentrum der Reflexion von Alchemisten über ihre Transformationsverfahren stand. Die Kritik an den Alchemisten, die immer wieder Vorwürfe von Falschheit, Unwahrheit und Betrug formuliert, lässt dagegen die scholastische Terminologie der Erkenntnisprozesse erkennen.

Mit literarischen Darstellungen des Irrtums befasste sich MARINA MONTESANO (Siena). Ausgehend von den missverstandenen Prophezeiungen in Shakespeares Macbeth führte sie in die Fehlbarkeit von Vorhersagen, Visionen und Weissagungen ein und erläuterte, wie diese in italienischen Chroniken des 13. und 14. Jahrhunderts verhandelt wurden. Falsche Prophezeiungen sind hier einerseits das Werk von Dämonen. Andererseits generiert sich die Fehlbarkeit von Weissagungen auch aus denjenigen, die sie verstehen oder eben missverstehen und vermeintlich nach ihnen handeln. So zeigte Montesano, dass besonders in literarischen Werken die vermeintliche Fehlbarkeit einer Weissagung dazu dienen konnte, den wahren Charakter des (miss)verstehenden Adressaten zu offenbaren.

AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI (Lausanne) wies anhand seiner Untersuchung der Zeremonien der Heiligsprechung im Spätmittelalter nach, dass in den ordines XIV und XV des 13. bis 15. Jahrhunderts eine mögliche Fehlbarkeit des Papstes durchaus zugelassen wurde. Obwohl der Papst bereits als Garant der Integrität der katholischen Kirche galt, wurde der Prozess der Heiligsprechung als menschlichen Fehlurteilen unterworfen aufgefasst. Demgegenüber wurde seit dem späten 16. Jahrhundert die Unfehlbarkeit des Papstes in der Heiligsprechung angenommen, wobei es sich um eine – im Französischen – inerrance und nicht um die spätere infaillibilité handelte. Die durch die Quellen belegte Tatsache, dass ein Papst im 14. Jahrhundert die eigene Fehlbarkeit thematisieren könne, so schloss Paravicini, habe die katholische Historiographie schlicht übersehen wollen.

MARTIN NEUTMANN (Greifswald) führte mit dem deontologischen Handbuch Opus perutile de cautelis medicorum des Arztes Gabriel Zerbus von 1495 in die Fehlbarkeitsdiskurse der Medizin ein. Zerbus’ Schrift markiert den Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in der Humanmedizin. Im Zentrum der Schrift steht die cautela. Sie beschreibt das von Normen und Regeln zur Vermeidung von Fehlern und von andauerndem Streben nach Perfektion geprägte Handeln des Arztes. Neutmann zeigte, wie Zerbus nicht zwischen dem Arzt als Wissenschaftler und Praktiker unterscheidet, dennoch ersterem die veritas als das höchste Gut zuschreibt, und letzerem zum Wohle der sanitas des Patienten auch eine Täuschung erlaube. Diese zwei ärztlichen Funktionen sind bei Zerbus situationsbezogen und existieren widerspruchslos nebeneinander. Das Konzept der cautela zeigt sich allerdings als nur mittelbar auf das Patientenwohl und letztlich auf den Erhalt der Ehre des Arztes ausgerichtet.

DANIELLE JACQUART (Paris) zeigte in ihrem Vortrag zur Bewusstwerdung der Fehlbarkeit der Ärzte und Chirurgen im Spätmittelalter, dass diese zum einen ein Problem für die fama, den Ruhm der Ärzte, darstellte. Zum anderen wurde die Möglichkeit ärztlicher Fehlbarkeit als Hindernis im Heilungsprozess aufgefasst, da das Vertrauen der Patienten als für diesen grundlegend angesehen wurde. Mögliche Gründen für die grundsätzliche Fehlbarkeit der Ärzte seien beispielsweise die Tatsache, dass bei der Diagnose der Lepra die Wahrheit als allein bei Gott liegend aufgefasst wurde, wie auch die Uneindeutigkeit der Zeichen, auf die ärztliche Irrtümer zurückzuführen seien. Obgleich aufgrund dessen die Furcht vor der Fehlbarkeit des Arztes in den Quellen allgegenwärtig ist, wird – so Jacquart – der Irrtum der Ärzte im Spätmittelalter noch nicht als eigenständiges Thema behandelt.

MARIACARLA GADEBUSCH BONDIO (Greifswald) erläuterte ausgehend von einem kulturellen Wandel des Umgangs mit Fehlern in der zeitgenössischen Medizin und im kritischen Bezug auf Karl Poppers Entwurf einer critical attitude, wie bereits seit Hippokrates und Galen und auch wieder seit dem Spätmittelalter Reflexionen über die Fehlbarkeit des Arztes, Methoden zur Vermeidung von Fehlern, Entwürfe einer von Umsicht, Gelehrtheit und praktischer Erfahrung geprägten Medizin entwickelt wurden. Dabei zeigte sich, dass auch in einer Zeit, in der die Anlehnung an Autoritäten der Wissenschaft maßgeblich war und die Popper als old ethics charakterisiert, bereits Elemente einer critical attitude vorhanden waren. In der anschließenden Diskussion wurde – richtungsweisend für das gesamte Symposium – weiterentwickelt, dass im Gegensatz zum Fehler, der wider besseren Wissens und Könnens begangen werde, der Irrtum gerade den Stand des Wissens wiedergebe und für eine kritische Entwicklung und Selbstreflexion desselben erkenntnistheoretisch eingebunden werden müsse.

ROBERTO POMA (Paris) legte mit seinen präzisen Ausführungen zum Arzt und Gelehrten Santorio Santorio (1561-1636) dar, wie dieser mittels medizinischer Geräte zu fehlerlosen Messungen körperlicher Vorgänge zu gelangen versuchte. Santorio problematisierte zunächst eine von Irrtum freie Interpretation der Symptome der dyscrasie (Ungleichgewicht der Humoralsäfte), um sich in späteren Werken der Quantifizierung des Übergangs von Krankheit zu Gesundheit, also verschiedenen Stadien der dyscrasie, zu widmen. Dabei schenkte er auch akzidentiellen und externen Faktoren bei Entstehung und Verlauf von Krankheiten große Beachtung. Indem er eine quantitative Analyse der körperlichen Vorgänge mittels seiner Instrumente einführte, integrierte Santorio erstmalig mittels instrumentell erreichbarer Präzision auch neue Formen der Fehlerhaftigkeit in die Medizin.

FRANCESCO SANTI (Cassino) befasste sich mit der Problematik der Wahrhaftigkeit optischer Eindrücke. Die Feststellung, dass das Sehen nicht selbstverständlich zur Wahrnehmung der Objekte in ihrer wahren Form und Natur führt, motivierte in der Renaissance Philosophen und Naturforscher, die Rolle des Lichtes als Mittel im optischen Wahrnehmungsprozess auszuloten. Am Werk De secretiis des Colmarer Arztes Jacob Wecker konnte Santi zeigen, wie magische und naturwissenschaftliche Elemente in der Diskussion über optische Wahrnehmung und ihre Verzerrungen miteinander existieren. Licht- und Schattenexperimente gehören zu den Phänomenen getäuschten Sehens, die Wecker aber auch della Porta in der Magia naturalis beschreiben. Schließlich betonte Santi, wie in der damaligen optischen Wahrnehmungsproblematik auch das Verhältnis von Objektivem/Wahrem zum Subjektiven/Verzerrten/Irrtümlichen problematisiert wurde.

Ebenfalls mit einem Problem der Täuschung befasste sich WINFRIED SCHLEINER (Davis). Er stellte die sich in der Renaissance verändernde Auffassung von Werwölfen vor. Zu dieser Zeit intensivierte sich die Ansicht, dass die Verwandlung in einen Werwolf nicht tatsächlich stattfinden könne, sondern eine melancholische Einbildung oder eine Täuschung durch teuflische Magie sei. Entscheidend für die Weiterentwicklung des Werwolf-Motivs aber ist die hier stark zunehmende Medikalisierung. Daran führte Schleiner mit dem Begriff des prestige einen weiteren in den Quellen der Zeit gefundenen Ausdruck ein, der einen durch Illusion verursachten Irrtum bezeichnet. Entscheidend für die Auffassung des Werwolfs wird in dieser Perspektive allerdings, wer einem Irrtum unterliege: der sich Verwandelnde, die ihn als solchen Sehenden – oder aber der Mediziner, der mit der Diagnose der Melancholie irrt?

FEDERICA LA MANNA (Calabria) ging in ihren Ausführungen vom etymologischen Zusammenhang von Irrtum und Irrsinn aus. Nicht nur sind beide Worte auf das Irren als ziellose Bewegung zurückzuführen. Auch die Melancholie wurde im 18. Jahrhundert als Irrtum des Körpers verstanden. In der Literatur findet sich zugleich aufgeklärtes Verständnis und Mitleid sowie die Faszination für das Irrationale, welche die zahlreichen Biographien von Wahnsinnigen und die in Reiseberichten beschriebenen Besuche von Irrenhäusern kennzeichnen. Die Behauptung, der Autor habe den Wahnsinnigen vor Augen gehabt, sicherte die Glaubwürdigkeit der Schilderung. Dem Wahnsinnigen dagegen wurde ein leerer Blick oder Scheu vor dem Blickkontakt unterstellt. So zeigt sich auch hier die aufklärerische Privilegierung des Sehsinns, von dem der/die Wahnsinnige abweicht.

FLORIAN STEGER (München) führte mit seinem Vortrag zur Seuchenbekämpfung in die Medizin der Neuzeit ein und konnte an diesem Gegenstand deren inhärenten Fortschrittsglauben hinterfragen. So zeigte er, dass die Maßnahmen, die Max von Pettenkofer in München gegen die Cholera ergriff, in einer der Miasmenlehre folgenden Auffassung der Ursachen der Cholera begründet waren. Obwohl die Miasmenlehre schon im 19. Jahrhundert angezweifelt wurde und heute als Irrtum gilt, hatten die stadthygienischen Maßnahmen Pettenkofers durchschlagenden Erfolg und setzten Maßstäbe für die heutige Hygiene. So führte gerade in einer Epoche, in der die Medizin ihren noch heute vertretenen Fortschrittsoptimismus entwickelte, eine überholte Theorie in Kombination mit zeitgenössischer Praktik zu großen Erfolgen in der Hygiene.

Am Beispiel des Histologen Jakob Henle machte CLAUDIA WIESEMANN (Göttingen) in ihrem Vortrag die wissenschaftstheoretischen Dimensionen des Irrens stark. Sie vollzog nach, wie Jakob Henles Irrtum über die Zellbildung im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere zu einem Fehler wurde. Henle vereinfachte das komplexe Verhältnis des mikroskopischen Sehens und des Hypostasierens zu Gunsten seiner eigenen Theorie und versäumte es so, Irrtümer in die Reflexion auf die eigenen Methoden zu integrieren. In der wissenschaftlichen Medizin werde seither durch die Privilegierung des objektiv Beobachtbaren für Spekulation und Irrtümer kein epistemologischer Raum mehr zur Verfügung gestellt. Wiesemann dagegen plädierte für eine Anerkennung des Irrtums als Teil des Erkenntnisprozesses in die Selbstreflexion der Wissenschaft.

CHRISTIAN BEHL (Mainz) verdeutlichte Fehler und Irrtümer in verschiedenen Phasen der bis heute andauernden Folgen der Contergan-Einnahme schwangerer Frauen in den späten 50er Jahren. Von den ersten Fehlbildungen an den Gliedmaßen Neugeborener über den Zeitraum bis zur Rücknahme des Medikaments vom Markt durch die Firma Grünenthal, über die juristischen Prozesse um deren Verantwortung für die Nebenwirkungen des Medikaments bis zur erst jüngst gefundenen, richtigen Erklärung, wie dieses in das embryonale Wachstum eingreift, führte Behl Irrtümer – über die Wirkweise eines Medikaments – und Fehler – im Umgang mit diesem und seinen Folgen – an. So zeigte sich schließlich auch, dass die Unterscheidung zwischen Fehler und Irrtum nicht zuletzt von juristischen Vorgaben beispielsweise bei der Medikamentenzulassung und von den Möglichkeiten kritischer medizinischer Forschung abhängt.

ELIO NENCI (Berlin) wies zu Beginn seines Vortrags auf eine kategorische Unterscheidung zwischen Fehler und Irrtum hin: Das Grimmsche Wörterbuch beziehe den Fehler auf ein Regelwerk und den Irrtum auf die Wahrheit. Diesen Unterschied erläuterte Nenci an aus dem Alten Ägypten und Mesopotamien stammenden Zeichnungen eines Bewässerungsgerätes, des Schaduff. Aus der Sicht heutiger Regeln technischer Zeichnungen müssen diese als fehlerhaft gelten. Allerdings verhilft diese Auffassung nicht zu einem Verständnis vergangener Regelwerke beziehungsweise vergangener Bautechnik und -zeichnung. Indem sie so den wahren Charakter historischer Technik und ihrer Zeichnungen verkenne, führe eine solche Interpretation in den Irrtum.

Eine Historiographie der Irrtümer ist, wie ANNETTE VOGT (Berlin) erläuterte, tragender Bestandteil der Mathematik und ihrer Weiterentwicklung. Hier wird zwischen simplen Fehlern und produktiven Irrtümern, die auf falschen Annahmen beruhen, unterschieden. Berühmte Irrtümer der Mathematik inklusive ihrer Widerlegung wurden beispielsweise von Maurice Lecat (1935) in Sammlungen publiziert. Das Erkennen und Widerlegen mathematischer Irrtümer ist nicht nur eine pädagogische Methode in der Mathematik; die Auseinandersetzung mit Irrtümern wird auch als Beteiligung am Fortschritt der Disziplin aufgefasst. Im Vergleich zu anderen Disziplinen fällt der produktive Umgang mit Irrtümern auf, der sich allerdings daraus erklärt, dass in der reinen Mathematik Irrtümer zunächst keine praktischen Konsequenzen haben, wenn sie auch disziplinäre Krisen wie jene nach der Widerlegung der euklidischen Geometrie auslösen können.

Eine ebenfalls zentrale erkenntnistheoretische Position nahm der Irrtum im Vortrag von ELKE BRENDEL (Bonn) ein. Sie stellte das Gedankenexperiment als Methode des Erkenntnisgewinns, aber auch des Irrtums vor. Gedankenexperimente werden besonders eingesetzt, um vermeintliche wissenschaftliche Fehler aufzudecken. Aufgrund ihrer spekulativen Natur sind sie allerdings auch für Fehler anfällig, die zumeist aus unterbestimmten, unplausiblen oder fälschlich aus der Alltagserfahrung in wissenschaftliche Begriffe überführten Vorannahmen, besonders einer unreflektierten Eingabe von Intuitionen resultieren. So zeigte Brendel aber auch, dass Gedankenexperimente eine wissenschaftliche Auseinandersetzung um irrtümliche Vorannahmen und Intuitionen herausfordern und somit zu Diskussion und Weiterentwicklung in einzelnen Disziplinen anregen können.

Durch die hier dargelegte kulturhistorische Breite wie auch durch die Zuspitzung auf Probleme der Fehlbarkeit in der Medizin konnten im Verlauf der Tagung verschiedene Ergebnisse erarbeitet werden. So zeigte sich, dass die Fehlbarkeit des Arztes wie auch der Medizin als forschender und praktischer Disziplin ein über die Jahrhunderte kontrovers diskutiertes Problem ist, dessen Handhabung mit verschiedenen Strategien und Methoden angestrebt wurde, nicht zuletzt weil ärztliche Fehler das Ansehen der Medizin in unserer Gesellschaft gefährden. Diesen Methoden ist zugleich zu entnehmen, dass der Versuch unternommen wurde, die Fehlbarkeit des Arztes in den heilsamen Umgang mit Patienten zu integrieren. Dass hier auch der Fehlbarkeit des Patienten eine Rolle zugeschrieben wurde, zeigt, wie die Reflexion über Fehlbarkeit in den Kern des Arzt-Patienten-Verhältnisses führen kann.

Die durchaus schöpferische Kraft des Irrtums wurde in den erkenntnistheoretisch ausgerichteten Beiträgen ersichtlich. Diese fokussierten auf den epistemologischen Status wissenschaftlicher Irrtümer in den jeweiligen Disziplinen und zeigten das Potential des Irrens zur Weiterentwicklung des Wissens auf. Am Beispiel von Darstellungen des Todes und der Krankheit im 15. Jahrhundert wie auch des Wahnsinns in der Spätaufklärung, die eng mit der Vorstellung einer irrenden Natur verknüpft sind, konnte gezeigt werden, wie Räume des Sagbaren eröffnet werden. Des Weiteren zeigte sich, besonders in der Auseinandersetzung mit Spätmittelalter und Renaissance, dass in der Kulturgeschichte vielfältige Wege begangen wurden, um den komplexen Gegensatz zwischen Irrtum und Wahrheit in Philosophie und Theologie zu erklären. Gleichzeitig entfachen sich immer wieder Diskussionen darum, wie Irrtum und Wahrheit – aufgrund von uneindeutigen Zeichen der Natur oder von dämonischer und melancholischer (Sinnes-)Täuschung – mit Sicherheit voneinander zu unterscheiden seien.

Obgleich Irrtümer wie auch Fehler die Verlässlichkeit von Praxis und Theorie ins Wanken bringen, stellen sie sich als unabdingbar für einen kreativen Erkenntnisprozess heraus. Die Reflexion über die Fehlbarkeit wird zum Auslöser einer selbstkritischen und ihrer eigenen Voraussetzungen bewussten Wissenschaft, die ihre eigenen Fehler und Irrtümer zu korrigieren in der Lage ist.

Die Veranstaltung wird dokumentiert in einem Tagungsband, der die gehaltenen Vorträge als Aufsätze versammelt und in der Reihe „Micrologus“ voraussichtlich im Frühling 2011 erscheinen wird.

Konferenzübersicht:

Thomas Ricklin (München), „Epikur, sein Irrtum und die Folgen“

Alessandro Ghisalbert (Mailand), „Gli errori die filosofi. Fisica aristotelica e onnipotenza teologica in Ockham e Buridano“

Paoloa Bernardini (Siena), „Veritas, error, positio. Some Aspects of the Debate Concerning the Eternity of the World in the XIII Century“

Martin Neutmann (Greifswald), „ ‚Cum diligenti attentione evitatio erroris’ – der fehlerfreie Arzt bei Gabriel Zerbus“

Michaela Pereira (Siena), „Il primo errore. Problematiche epistemologiche dell’alchimia“

Maria Montesano (Siena), „Mistaking revelations. On the Deceptive Nature of Prophecies, Visions, Divinations.“

Agostino Paravicini Bagliani (Lausanne), „Le Pape est-il vraiment infaillible au bas Moyen Age? Implications rituelles“

Danielle Jacquart (Paris), „La prise de conscience de la faillibilité chez les médecins et les chirurgiens des derniers siècles du Moyen Age“

Florian Steger (München), „Heilsame Irrtümer – Seuchenbekämpfung im 19. Jahrundert“

Mariacarla Gadebusch Bondio (Greifswald), „Vom Ringen der Medizin um ihre Fehlbarkeit – epistemologische und ethische Reflexionen“

Roberto Poma (Paris), „Santorio Santorio et l’infaillibilité médicale“

Federica la Manna (Calabria), „Wahnsinn als Irrtum. Biographien von Wahnsinnigen in der Spätaufklärung“

Claudia Wiesemann (Göttingen), „Was macht den Irrtum zum Irrtum? oder Wie der Begründer der mikroskopischen Anatomie, Jacob Henle (1809-1885), sehen lernte“

Christian Behl (Mainz), „Contergan: Medikament mit fatalen Folgen“

Elio Nenci (Berlin), „Fehlerhafte Darstellungen in Maschinenzeichnungen: der Fall des ‚shaduf’“

Annette Vogt (Berlin), „Nützliche Fehler – Überlegungen aus mathematikhistorischer Sicht“

Elke Brendel (Bonn), „Intuitionen und Gedankenexperimente als wissenschaftliche Fehlerquelle“

Winfried Schleiner (Davis), „Who is deceived, the Patient or the Physician? Lycanthrophy in the Renaissance“

Francesco Santi (Cassino), „L’illuminazione artificiale come un sistema di inganni“

Donatella Lippi (Firenze), „Die Nützlichkeit einer Geschichte der Irrtümer in der Medizin. Die Herausforderung von Augusto Murri“